Die Welt wird mit der Milchmädchen Rechnung regiert – ein Polit-Affront mit Potenzial

Reading Time: 5 minutes

Zur Qualität der finanziellen staatlichen Governance

Bilanz, Mittelflussrechnung, Erfolgsrechnung: Dies sind die wichtigsten Bausteine der professionellen kommer­ziel­len Führung und Berichterstattung von Organisationen, egal ob sie als Verein, Aktien­ge­sellschaft, Genos­sen­schaft oder gemeinnützige Organisation ausgerichtet sind. Darauf basieren Füh­rungskräfte, Anteilseigner aber auch Steuerbehörden ihre Entscheidungen. Je grösser und komplexer die Organisation, desto grösser der Be­darf, mit Hilfe von Zahlen, die Komplexität zu durchdringen. Un­ternehmen investieren weltweit Mil­liar­den in ihre Manage­ment­­informationssysteme, um ihre internen Zusammen­hänge aus allen Blick­winkeln zu durch­leuch­ten und ihre Ent­schei­dungsqualität zu erhöhen. Die Unternehmen werden dabei von einer Heer­­schar von Or­ga­ni­sa­tionen, Beratern, Revisoren, Finanzexperten und Wissenschaftlern bei der Su­che von neuen Zu­sam­menhängen und der Definition von Rechnungslegungsstandards unterstützt. Dem neu­gie­rigen und verantwor­tungs­bewussten Unternehmensführer und Investor stehen damit Informationen zur Ver­­fügung, mit welchen die best­mög­li­chen Entscheide gefällt wer­den können. Die hohe Transparenz vor allem im Segment der bör­senkotierten Unternehmen, bie­tet zudem Journalisten, Finanzkom­men­ta­to­ren, Brokern aber auch Nach­hal­tig­keitsorganisationen, die Basis, um ihre Urteile zu fällen und darauf ihre Ge­schäftsmo­delle ab­zu­stützen. Na­tür­lich können auch trotz guter Datenlage Fehlentscheide fal­len, sei dies, weil Fakten ignoriert oder falsch in­terpretiert werden, oder die Zukunft sich anders als die Vergangenheit verhält. Die Fehlent­schei­dungsrate wäre aber ohne die heutige Daten­lage grösser. Das Führen von und mit Bilanzen, Mit­telfluss- und Erfolgs­rech­nung ist für private Ge­sell­schaf­ten, los­ge­löst ihrer Organisationsform, der Alltag – nicht nur weil es der Gesetz­geber ver­langt, son­dern weil es sinnvoll und notwendig und damit die Voraussetzung ist, um mit einer transparenten Ausgangsla­ge nachhaltig zu wirtschaf­ten. Heute kann sich niemand er­lau­ben, nicht einmal ein Privathaushalt – auch er muss für die Steuerbehörden sein Netto­ver­mögen und seine Einkünfte offenlegen – seine Geschäfte lediglich mit einer Milchmädchenrechnung zu führen.

Der einzige, welcher heute noch seine Geschäfte mit einer simplen Milchmädchenrechnung führt ist der Staat. Nur einer von 35 OECD Staaten kann 2016 mit gutem Gewissen davon ausge­nommen werden. Zur Erinnerung, mit Ausnahme Chinas, sind in der OECD alle wichtigen und ent­wickelten Volkswirtschaften zusammengefasst. Die Daseinsberechtigung des Staates ist es, als Servicekonzern seiner Bürger, diesen Dienst­leistun­gen im Be­reich zum Beispiel der Gesund­heit, Bildung, Umverteilung oder Rechts­sicherheit zu bieten. Hier­für müssen die Ver­ant­wortlichen Umsatz gene­rieren, Kosten verursachen und investieren und damit Füh­rungs­funktionen wahr­neh­men, wie dies in jeder Organisation der Fall ist. Der ein­zi­ge Unterschied liegt darin, dass der Staat nur in seinem Mittelfluss positiv sein muss und keine Ge­win­ne zu erzielen braucht und kein Mehr­heits­eigner besteht. Damit gleicht der Staat einer gemeinnützigen Genossenschaft. Nur, er ist nicht als solche geführt.

Die doppelte Buchhaltung, mit Bilanz, Mittelfluss- und Erfolgsrechnung ist in der Führung der Staaten nicht etabliert, obschon es sich hierbei um substantielle und komplexe Wirtschaftssubjekte han­delt, an deren nach­haltiger Führung alle Bürger ein besonders hohes Interesse haben müssten. Sta­aten werden, mit einer Ausnah­me, nach wie vor mit der Milchmädchenrechnung geführt, wofür der Fachbegriff Kameralistik verwendet wird, einer Buchhaltungslogik aus dem Mittelalter. In der Kameralistik gibt es weder Bilanzen noch Erfolgsrech­nun­gen noch ein Eigenkapital, schon gar nicht konsolidiert, es gibt nur eine rudi­men­täre „Free Cashflow“ Be­trach­tung, wel­che lediglich Einnahmen und Ausgaben unterscheidet. Diese nur gilt es so­dann gemäss den gängigen Verfassungs­bestimmungen der OECD Staaten zu führen. Wirt­schaft­liche Zu­sam­menhänge werden dabei nicht perio­dengerecht abgegrenzt und nur dann verbucht, wenn sie zur Ein- oder zur Aus­zah­lung gelangen. Eine Schuld­­­­aufnahme gilt als eine Einnahme. Investitionen sind wie Kosten, sie wer­den dann verbucht, wenn sie be­zahlt werden – und nicht zum Zeitpunkt, in welchem der Nutzen an­fällt. Investi­tio­nen sind deswegen nicht sehr beliebt, da sie das laufende Budget übermässig be­lasten. Für die Bilanz ist als Fol­ge niemand wirklich verant­wortlich, weder für das Eigenkapital, noch für die Ka­pitalbindung noch für die Ver­bindlichkeiten. Wer ist da noch darüber erstaunt, dass die staat­lichen Schulden explo­die­ren oder da und dort die staatliche Infrastruktur in ihrer Qualität zu wünschen übrig lässt?  Dies ist jedenfalls keine Basis für Qualität und Nachhaltigkeit.

Kritiker mögen entgegnen, dass sich viele OECD Staaten verpflichtet hätten, die doppelte Buch­hal­tung ein­zu­füh­ren und einige der Mitglieder in ihrer Professionalität grosse Fort­schritte gemacht hätten womit die Kritik nicht mehr angebracht sei. Gewisse Fortschritte sind ohne Zweifel feststellbar, insbe­sondere was das Re­porting anbelangt, aber die Qualität des Er­reich­ten ist noch gering und es wird vor allem nicht damit ge­führt. 16% von 32 Staaten einer OECD Studie basieren 2016 ihre finanzielle Berichterstattung für ver­gan­gene Perio­den alleinig auf der Ka­me­ralistik, 72% verwenden die doppelte Buch­haltung, 13% eine Misch­form von Kame­ralistik und dop­pelter Buchhaltung. Bei der Mehr­heit sind die Berichte aber, wie in der Studie fest­gestellt wird, in ihrer Qualität mangelhaft, weil sie gerade in bilanziellen Fragen noch fehler- und lückenhaft sind und/oder kein kon­solidiertes Bild über aller wirtschaftlich zuge­hö­ri­gen Einheiten ermöglichen. Es tut sich am Thema der ex-post Berichterstattung etwas, auch wenn die Qualität noch zu wünschen übrig lässt. Anders sieht dies bei der Bud­getierung aus, der nach vor­ne gerichteten wirt­schaftlichen Führung mit Zahlen. 56% der OECD Staaten budge­tieren ihr Gesamtzahlenwerk alleinig mit der kameralen Logik, 13% mit einer Mischform und 31% mit der Lo­gik der doppelten Buchhaltung – davon ist aber die Bilanz ausgenommen. Es ist bekannt, dass nam­hafte Staaten keine Absicht hegen, ihren bisherigen kameralen Budgetprozess abzu­lösen und diesen zu professionali­sie­ren. Nur 1 (3%) Land arbeitet in seinem Budgetierungsprozess mit einer Plan­bilanz, gesamt­haft und auf der Ebene der Ministerien. Nur eines der OECD Länder wird also von des­sen Politik und Verwal­tung wie eine moderne und vor allem nachhaltig aufgestellte Organisation ge­führt. Alle an­deren Länder ge­nügen nicht, da deren öffent­li­che Hand auf Bundesebene unge­bro­chen mit einer Milch­mäd­chen Rechnung ge­führt werden. Dies trifft auch dann zu, wenn rück­wir­ken­de, aber für die operative und strategische Staats­füh­rung irrelevante Reports, nach der dop­pelten Buch­haltungslogik publiziert werden, erst recht, wenn diese qualitativ unge­nügend sind. Alle Re­gie­rungen, mit der genan­nten Aus­nah­me, erlauben keinem Anleger, sich ein wirtschaftlich abgestütztes Urteil zu bilden, und sie können vor allem ihren Bürgern ge­genüber nicht beweisen, dass sie dessen Substanz und Steuer­substrat schützen, wirtschaftlich ein­setzen und nachhaltig regieren. Wes­halb die Finanzmarktaufsicht sol­che Investitionen als risikofrei definiert ist unklar. Es ist schon etwas ein Af­front, wenn die Politik von ihren Bür­gern ein verantwortungsvolles Wirtschaften, Transparenz und  Nach­haltig­keit einfor­dert, in eigener Sache sich aber genau gegenteilig verhält – umgekehrt könnte aber gerade darin ein gewaltiges Potenzial für Verbes­serungen liegen, um Wachstum und Produktivität wieder zu steigern.